Reise # 2: La Rochelle
Es ist März, mitten in der Woche. Später Nachmittag. Eine ungewöhnliche Uhrzeit. Eigentlich bin ich nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Aber jetzt ist es ohnehin egal. Meine Erfahrung sagt mir, dass schließlich immer irgend etwas passiert, selbst zur Feierabendzeit.
Ich habe mich verabredet. Mit einem Mann vom Nachbartisch im Café. Gestern abend. Wir wollen einkaufen gehen. Nur kann ich mich nicht erinnern, warum. Und weshalb zu dieser blöden Zeit.
Er steht vor dem Hotel, und sein Name will mir nicht einfallen. Anderthalb Stunden laufen wir, jetzt muss er zur Toilette. Wir gehen in ein seelenloses, vor nicht allzu langer Zeit aus dem Boden gestampftes Einkaufsareal. Im Foyer findet zwischen den üblichen Läden eine denkwürdige Veranstaltung statt. Sieben mit allerlei Instrumenten bestückte Herren fortgeschrittenen Alters stehen auf einer improvisierten Bühne und bedienen lautstark ihre Tonwerkzeuge. Sie tragen Trachten, deren regionaler Ursprung allerdings nicht klar auszumachen ist. Vor ihnen steht eine ziemlich dicke Frau. Sie ist in ein seltsames Kleid gehüllt, das man in ihrer Heimat wahrscheinlich nicht mehr trägt, das in Einkaufszentren noch seltener anzutreffen ist und daher befremdlich wirkt. Die schwergewichtige Dame singt aus voller Brust zur Begleitung der betagten Musiker.
Erst jetzt bemerke ich, mittlerweile alleine, dass hinter dieser bizarr anmutenden Darbietung eine Werbetafel angebracht ist, die den Versuch unternimmt, Einkaufende für den Besuch einer Insel in der Karibik zu begeistern. Dass ich mich auf einer Werbeveranstaltung befinde, wird mir spätestens klar, als ein schmieriger und denkbar unfranzösisch aussehender Moderator auf einer Balustrade erscheint und die Vorzüge einer kleinen Reise nach Ichweißnichtwohin mit echter Vertreternatur und geheuchelter Inbrunst anpreist.
Mein Begleiter steht wieder neben mir und sagt: "zu wenig Farbe". Nein, ich kann nicht verstehen, was er damit meint, finde die Vorstellung aber auch etwas fade.
Wieder auf der Straße erklärt er, seine Passion sei es, Farben zu sammeln. Und ob ich ihm nicht meine Farben verkaufen wolle. Wie soll das nur gehen, frage ich mich, und überhaupt: welche Farben. Nach wenigen Minuten ist der Moment der Erhellung gekommen: um ihn herum ist es schwarz/weiß. Er saugt mehr oder weniger die Farbe um sich herum auf. Und will nun meine Farben haben. Mir wird ganz schwummrig. Werde ich nur noch Grautöne sehen?
Ich spüre Schweiß auf der Stirn. Mein Blick schweift zum Fenster. Ich sehe die triste und graue Neonwerbung meines Hotels. Was würde ich ihm wohl gesagt haben? Der Traum ist zu Ende. Es ist acht Uhr morgens, die Sonne küsst den neuen Tag. Ich werde heute Farben neu sehen! Bunt soll die Welt sein. Und ich werde abends keinen Calvados mehr trinken.
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